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  Der Stern der Mitte ( 1 )
  Ein weiser Mann aus dem Morgenland hatte nach Jahren mühseliger Arbeit aus den Gesteinen der Erde einen Stern zusammengesetzt, in dem die feinsten Kräfte des Lebens gebannt waren. Was dem Weisen Schönes und Wertvolles begegnet war, hatte er in Kristallen verwandelt und dem Sterne eingefügt.
  Als der Wunderstern vollendet war, ließ er auf der Landstraße, die von Mekka nach Medina führt, eine prächtige Schau- und Kaufhalle errichten. Hoch oben in der Kuppel befestigte er seinen Stern. Um ihn her liefen goldene Lettern, die in einer fremden Sprache folgenden Spruch trugen:
 
  Weib oder Mann,
  sieh mich gläubig an,
  dann leuchtet tief,
  was verborgen schlief,
  dann wird zum Kern der Dinge Gestalt,
  dann wird zur Ohnmacht fremde Gewalt,
  dann wird zum Helden das Kind, der Tor,
  dann klimmt ein Mensch zu Gott empor!
 
  Tausende von Wanderer kamen täglich durch die Wunderhalle und bestaunten die Pracht und die Schätze, die der weise Mann darin aufgehäuft hatte. Sie betasteten das künstliche Gitterwerk vor den Schaukästen, die farbenprächtigen Teppiche an den Wänden, die herrlichen Sammlungen der Waffen und edlen Gesteine in den Nischen - jedoch den Stern hoch oben in der Deckenwölbung sah niemand gläubig an. Wohl streifte ab und zu ein halber blick den hellen Fleck, aber man hielt ihn für wertloses Glas, und niemandes Auge blieb an ihm haften. Immer kehrten die Blicke in die prächtige Halle unten zurück. Da hingen auch zwei große Bilder an den Wänden. Vor diesen Bildern stand die Menge immer dichtgedrängt mit Staunen und Geflüster.
  Das eine Bild stellte den Tod dar, wie er an einer langen Kette vorbeimarschierte und mit der Sense einem Soldaten nach dem andern den Kopf abschlägt. Die Soldaten aber - und das war grausig anzusehen - standen alle stramm wie auf dem Kasernenhof, und die ihren Kopf noch hatten, machten die Augen zu. Vorn, auf dem Feuer einer platzenden Granate, saß grinsend der Teufel und schwenkte sein rotes Fähnchen.
  Das Bild auf der andern Seite war ein Gastmahl in einer offenen Veranda. Eine Menge schöngeputzter Herren und Damen saßen da zu Tische. Erlesene Speisen und edle Weine standen vor ihnen. Sie aßen und lachten mit einander und warfen Knochen und Brotstücke über die Brüstung. Draußen standen viele arme Leute und fingen die Broken auf; einige mit Hass in den Augen, andere mit tiefer Verbeugung. Daneben standen etliche, die sahen traurig oder ingrimmig zu, und einer ballte die Faust nach dem Tisch mit den Speisen.
  Diese beiden Bilder zogen die Menschen immer wieder machtvoll an, aber der Weise aus dem Morgenland sah kopfschüttelnd zu; die Halle war schon seit Jahren fertig, und noch kein Pilger hatte den Stern der Decke gläubig angesehen.
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  Paula Dehmel, 1862 - 1918
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