Der kleine Tannenbaum ( 1 )
Es war einmal ein kleiner Tannenbaum im tiefen Tannenwalde, der wollte so gerne
ein Weihnachtsbaum sein. Aber das ist gar nicht so leicht, als man das meistens
in der Tannengesellschaft annimmt, denn der heilige Nikolaus ist in der
Beziehung sehr streng und erlaubt nur den Tannen als Weihnachtsbaum in Dorf und
Stadt zu spazieren, die dafür ganz ordnungsmäßig in seinem Buch
aufgeschrieben sind. Das Buch ist ganz erschrecklich groß und dick, so
wie sich das für einen guten alten Heiligen geziemt, und damit geht er im
Walde herum in den klaren kalten Winternächten und sagt es allen den
Tannen, die zum Weihnachtsfeste bestimmt sind. Und dann erschauern die Tannen,
die zur Weihnacht erwählt sind, vor Freude und neigen sich dankend und
dazu leuchtet des Heiligen Heiligenschein und das ist sehr schön und sehr
feierlich.
Und der kleine Tannenbaum im tiefen Tannenwalde, der wollte so gerne ein
Weihnachtsbaum sein.
Aber manches Jahr schon ist der heilige Nikolaus in den klaren kalten
Winternächten an dem kleinen Tannenbaum vorbeigegangen und hat wohl ernst
und geschäftig in sein erschrecklich großes Buch geguckt, aber auch
nichts und gar nichts dazu gesagt. Der arme kleine Tannenbaum war eben nicht
ordnungsmäßig vermerkt - und da ist er sehr, sehr traurig geworden
und hat ganz schrecklich geweint, so dass es ordentlich tropfte von allen
Zweigen.
Wenn jemand so weint, dass es tropft, so hört man das natürlich, und
diesmal hörte das ein kleiner Wicht, der ein grünes Moosröcklein
trug, einen grauen Bart und eine feuerrote Nase hatte und in einem dunklen
Erdloch wohnte. Das Männchen aß Haselnüsse, am liebsten hohle,
und las Bücher, am liebsten dicke, und war ein ganz boshaftes kleines
Geschöpf. Aber den Tannenbaum mochte es gerne leiden, weil es oft von ihm
ein paar grüne Nadeln geschenkt bekam für sein gläsernes
Pfeifchen, aus dem es immer blaue ringelnde Rauchwolken in die goldene Sonne
blies - und darum ist der Wicht auch gleich herausgekommen, als er den
Tannenbaum so jämmerlich weinen hörte und hat gefragt: "Warum
weinst du denn so erschrecklich, dass es tropft?"
Da hörte der kleine Tannenbaum etwas auf zu tropfen und erzählte dem
Männchen sein Herzeleid. Der Wicht wurde ganz ernst und seine
glühende Nase glühte so sehr, dass man befürchten konnte, das
Moosröcklein finge Feuer, aber es war ja nur die Begeisterung und das ist
nicht gefährlich. Der Wichtelmann war also begeistert davon, dass der
kleine Tannenbaum im tiefen Tannenwalde so gerne ein Weihnachtsbaum sein
wollte, und sagte bedächtig, indem er sich aufrichtete und ein paar Mal
bedeutsam schluckte:
"Mein lieber kleiner Tannenbaum, es ist zwar unmöglich, dir zu
helfen, aber ich bin eben ich und mir ist es vielleicht doch nicht
unmöglich, dir zu helfen. Ich bin nämlich mit einigen Wachslichtern,
darunter mit einem ganz bunten, befreundet, und die will ich bitten zu dir zu
kommen. Auch kenne ich ein großes Pfefferkuchenherz, das allerdings nur
flüchtig - aber jedenfalls will ich sehen, was sich machen lässt. Vor
allem aber weine nicht mehr so erschrecklich, dass es tropft."
Damit nahm der kleine Wicht einen Eiszapfen in die Hand als Spazierstock und
wanderte los durch den tiefen weißverschneiten Wald, der fernen Stadt zu.
________________
Manfred Kyber 1880 - 1933
________________
Weihnachten.mobi ist eine Textsammlung.
Aktueller Seitenbereich: Weihnachtsmärchen - Der kleine Tannenbaum
________________
copyright by Camo & Pfeiffer