Der kleine Tannenbaum ( 2 )
Es dauerte sehr, sehr lange, und am Himmel schauten schon die ersten Sterne der
heiligen Nacht durchs winterliche Dämmergrau auf die Erde hinab und der
kleine Tannenbaum war schon wieder ganz traurig geworden und dachte, dass er
nun doch wieder kein Weihnachtsbaum sein würde. Aber da kam's auch schon
ganz eilig und aufgeregt durch den Schnee gestapft, eine ganze kleine
Gesellschaft: der Wicht mit dem Eiszapfen in der Hand und hinter ihm sieben
Lichtlein - und auch eine Zündholzschachtel war dabei, auf der sogar was
draufgedruckt war und die so kurze Beinchen hatte, dass sie nur mühsam
durch den Schnee wackeln konnte.
Wie sie nun alle vor dem kleinen Tannenbaum standen, da räusperte sich der
kleine Wicht im Moosröcklein vernehmlich, schluckte ein paar Mal gar
bedeutsam und sagte:
"Ich bin eben ich - und darum sind auch alle meine Bekannten mitgekommen.
Es sind sieben Lichtlein aus allervornehmstem Wachs, darunter sogar ein buntes,
und auch die Zündholzschachtel ist aus einer ganz besonders guten Familie,
denn sie zündet nur an der braunen Reibfläche. Und jetzt wirst du
also ein Weihnachtsbaum werden. Was aber das große Pfefferkuchenherz
betrifft, das ich nur flüchtig kenne, so hat es auch versprochen zu
kommen, es wollte sich nur noch ein Paar warme Filzschuhe kaufen, weil es gar
so kalt ist draußen im Walde. Eine Bedingung hat es freilich gemacht: es
muss gegessen werden, denn das müssen alle Pfefferkuchenherzen, das ist
nun mal so. Ich habe schon einen Dachs benachrichtigt, den ich sehr gut kenne
und dem ich einmal in einer Familienangelegenheit einen guten Rat gegeben habe.
Er liegt jetzt im Winterschlaf, doch versprach er, als ich ihn weckte, das
Pfefferkuchenherz zu speisen. Hoffentlich verschläft er's nicht!"
Als das Männchen das alles gesagt hatte, räusperte es sich wieder
vernehmlich und schluckte ein paar Mal gar bedeutsam und dann verschwand es im
Erdloch. Die Lichtlein aber sprangen auf den kleinen Tannenbaum hinauf und die
Zündholzschachtel, die aus so guter Familie war, zog sich ein
Zündholz nach dem anderen aus dem Magen, strich es an der braunen
Reibfläche und steckte alle die Lichtlein der Reihe nach an. Und wie die
Lichtlein brannten und leuchteten im tiefverschneiten Walde, da ist auch noch
keuchend und atemlos vom eiligen Laufen das Pfefferkuchenherz angekommen und
hängte sich sehr freundlich und verbindlich mitten in den grünen
Tannenbaum, trotzdem es nun doch die warmen Filzschuhe unterwegs verloren hatte
und arg erkältet war. Der kleine Tannenbaum aber, der so gerne ein
Weihnachtsbaum sein wollte, der wusste gar nicht, wie ihm geschah, dass er nun
doch ein Weihnachtsbaum war.
Am anderen Morgen aber ist der Dachs aus seiner Höhle gekrochen, um sich
das Pfefferkuchenherz zu holen. Und wie er ankam, da hatten es die kleinen
Englein schon gegessen, die ja in der heiligen Nacht auf die Erde dürfen
und die so gerne die Pfefferkuchenherzen speisen. Da ist der Dachs sehr
böse geworden und hat sich bitter beklagt und ganz furchtbar auf den
kleinen Tannenbaum geschimpft.
Dem aber war das ganz einerlei, denn wer einmal in seinem Leben seine heilige
Weihnacht gefeiert hat, den stört auch der frechste Frechdachs nicht mehr.
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Manfred Kyber 1880 - 1933
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