Eine Weihnachtsfahrt
Wir waren wieder einmal auf unseren Weihnachtsfahrten
zu den Armen. Unser Weg führte uns auch dieses Mal in einen der
entferntesten Vororte Rigas. Wir hielten vor einem hohen Steinhaus, wo wir mit
unserem Weihnachtsbäumchen eine arme Frau aufsuchen wollten. Eine
Nachbarin wies uns eine Steintreppe hinauf, die wir mühsam
emporkletterten, und wir standen bald in einem großen, dunklen Zimmer,
das von einer Petroleumlampe kaum erhellt wurde. Als wir die Tür
öffneten, konnte man zuerst fast nichts in dem dunklen Raum unterscheiden.
Ein entsetzlicher Geruch schlug uns entgegen. Als unsere Augen sich an die
Dämmerung gewöhnt hatten, erkannten wir die Ursache des furchtbaren
Geruchs, der von faulen Tierhäuten herkam, die zum Trocknen von der Decke
herabhingen. An der Wand entdeckten wir ein schmales Bett, in dem eine kleine
dunkle Gestalt zusammengekrümmt lag. Wir traten ans Bett, stellten das
mitgebrachte Weihnachtsbäumchen auf ein Tischchen - der Pastor las das
Weihnachtsevangelium, wir sangen Weihnachtslieder. Mit bösem, hartem
Ausdruck blickte die Kranke zu uns herüber; ihr Gesicht hatte etwas von
einem Raubvogel, keine Freude, nicht einmal Staunen sprach aus den runden,
bösen Augen. Der Pastor redete einige Worte zu ihr, von der Freude, die
heute in die Welt gekommen wäre - sie sah ihm starr ins Gesicht, ohne eine
Miene zu verziehen; sie konnte die frohe Botschaft nicht hören, ihr Herz
war verschlossen und tot.
Der Pastor fragte sie, ob sie jemand habe, der sich um sie kümmerte. - Ja,
ihre Söhne - am Morgen gingen sie auf Arbeit aus, stellten ihr das
Nötige hin und kämen am Abend wieder - den ganzen Tag läge sie
allein. - Ob ihr die Einsamkeit schwer zu tragen wäre? - Sie antwortete
nicht darauf. Ein Jammer um diese lichtlose Leben fasste unsere Herzen. Eine
freundliche Blumenhändlerin hatte mir einen großen Strauß
Frühlingsblumen für meine Armenfahrt mitgegeben. Ich griff in mein
Körbchen, wo ich sie sorgsam gegen die Winterkälte verwahrt hatte,
und legte sie alle der Kranken auf die Brust. Mit ihren dunklen,
verkrümmten Fingern fasste sie vorsichtig nach ihnen wie nach etwas
Unwirklichem. Und dann ging eine merkwürdige Veränderung in dem
harten, scharfen Gesicht vor sich: es brach wie ein Leuchten aus ihren Augen.
"Blumen, lebendige Blumen", sagte die harte Stimme, in der
plötzlich eine Freude klang. "Blumen für mich", sagte sie
noch einmal, "und ich darf sie behalten." Sie nahm die lichten
Frühlingskinder und hob sie an ihre Wangen und atmete den Duft ein. Auf
ihrem Gesicht lag ein Glänzen. Sie sah nicht den Weihnachtsbaum mit seinen
schimmernden Lichtlein, sie sah uns nicht, die wir erschüttert an ihrem
Bett standen - sie sah nur die Blumen, und ihre Seele lauschte diesem Ruf aus
einer lichten Welt. Wir gingen still hinaus. In der Türe wandte ich mich
um und nahm die ganze trostlose Umgebung, in der sie lag, noch einmal in mich
auf. Sie aber lag friedlich da, im Lichte der Weihnachtskerzen, die Hände
dicht um die Frühlingsblumen geschlossen, die hellen Blüten an ihre
dunkle Wange gedrückt. Ihre Augen waren geschlossen - auf ihrem Gesicht
war Frieden.
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Monika Hunnius 1858 - 1934
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