Der Geiger ( 1 )
Ein junger Musiker war an mich empfohlen, er war Geiger bei einer
Kapelle. Es war nur wenige Wochen vor Weihnachten , als er nach Riga gekommen
war. Er stand vor mir, noch fast ein Knabe, es war sein erster Ausflug in die
Welt. Freunde von mir, die sich für seine Ausbildung interessierten,
schrieben, dass ich mich seiner annehmen sollte. Es war ein schönes,
dunkles Knabengesicht, in das ich schaute, als er vor mir stand, mit
wunderbaren Augen, die mich halb trotzig, halb ängstlich ansahen. Halb
trotzig , halb ängstlich war auch sein ganzes Wesen. Er wollte so gern den
Künstler markieren, der seinen hohen Flug beginnt. Aber hinter der
wallenden Künstlermähne und den etwas flotten Worten fühlte ich
ein ängstlich schlagendes Knabenherz. Es war etwas an ihm, das einem Lust
machte, ihn an die Hand zu fassen, sachte mit mütterlicher Hand über
seine Künstlermähne zu streichen und ihm ganz einfach zu sagen:
"Komm nur, du sollst bei mir ein Stück Heimat finden."
Er kam fast täglich zu mir, denn sein Leben bedrückte und
beängstigte ihn. Es war so viel Unreifes in ihm, soviel Ahnungslosigkeit
von dem, worauf es im Leben ankam. Er war noch wie ein großes Kind. In
den ersten Tagen vertraute er mir sofort eine unglückliche
"Lebensliebe" an, die ihn aus Deutschland in die Fremde getrieben
hatte, und an der er zugrunde zu gehen schwor. Als ich es wagte, die Sache
nicht gar zu tragisch zu nehmen, war er beleidigt und kam tagelang nicht zu
mir, und es dauerte lange, bis ich ihn versöhnt hatte. Und nun kam
Weihnachten heran. Er hatte den ganzen Tag frei und kam schon früh am
Morgen zu mir. Ich übergab ihm den Schmuck des Weihnachtsbaumes, er half
beim Backen in der Küche. Bei all den Vorbereitungen hatte er bald sein
stolzes Künstlertum vergessen, das er sonst wie einen Mantel
umgehängt hatte. Mit glühendem Eifer lief er durch die Zimmer,
ließ sich noch auf letzte vergessene Besorgung schicken, kam mit
hochroten Wangen und erfrorenen Händen wieder heim, lief immer hinter mir
drein, um mir zu versichern, es sei ein wunderschöner Tag.
Meine alte Tante, die bei mir lebte, war ganz beglückt über das
helle, frohe Knabenlachen, das durch die Zimmer klang. Als wir um den
Mittagstisch saßen, erklärte ich, bis halb sechs müssten die
Vorbereitungen beendet sein, denn dann ziehen wir alle in die Kirche zum
Festgottesdienst. "Ich gehe nicht in die Kirche", sagte er wichtig,
indem er den Kopf zurückwarf, "ich halte nichts davon, außerdem
bin ich katholisch, ich mag nicht die lutherischen Gottesdienste."
"Haben Sie schon einen mitgemacht?" fragte ich, "kennen Sie
unsere Festgottesdienste?" Er schlug verlegen die Augen nieder.
"Nein", sagte er ein wenig kleinlaut. "Nun, dann probieren Sie
es doch einmal", meinte ich freundlich. Um halb sechs stand er fertig
gerüstet vor mir. "Wenn Sie mich mitnehmen", sagte er leise,
"möchte ich wohl gern in die Kirche mit Ihnen."
Als wir in unserem alten Dom standen, den die Gemeinde dicht gedrängt Kopf
an Kopf füllte, wurde es still. Es war ein liturgischer Gottesdienst;
wunderbarer Chorgesang klang durch den Raum. Dazwischen verlas der Pastor die
Weihnachtsgeschichte, und wir sangen Weihnachtslieder. Auf dem Altar standen
die riesengroßen Tannenbäume voll Lichterglanz. Ich streifte
heimlich meinen Nachbarn mit den Blicken, er hatte sich ganz vergessen, sich,
seinen Katholizismus, seinen Widerspruch und seinen Trotz.
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Monika Hunnius 1858 - 1934
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