Der Geiger ( 2 )
Versunken stand er
neben mir, mit dem Blick auf die Weihnachtsbäume, verloren in der Weihe
der Stunde, mit einem wunderschönen Ausdruck in seinen großen,
strahlenden Augen. Als zum Schluss der Chorgesang leise erklang: "Stille
Nacht, heilige Nacht!", da sah ich, wie seine Lippen bebten. Ich hatte
einen großen Strauß Frühlingsblumen bei mir, der zu einer
Kranken gebracht werden sollte. Wir gingen zusammen bis vor die Tür der
Kranken, dann bat ich ihn, hineinzugehen und ihr den Strauß zu bringen.
"Aber geben Sie ihn selbst in ihre Hände", sagte ich. Es dauerte
lange, bis er wieder zu mir trat. "Nun?" fragte ich. Er konnte zuerst
nicht reden. "Ich war bei der Kranken", sagte er endlich bewegt,
"und gab ihr den Strauß. Sie hat mich gar nicht gefragt, wer ich
sei, von wo ich käme, sie hat sich nur gefreut." Schweigend wanderten
wir durch die verschneiten Straßen meiner Wohnung zu. Heller Lichterglanz
schien auf unserem Wege, und in den Häusern zündete man schon die
Weihnachtsbäume an. Mein Gefährte schwieg. "Welch ein
merkwürdiger Tag", sagte er plötzlich, "mir ist`s, als ob
es wirklich Frieden auf Erden wäre."
Und nun kam auch bei uns die Stunde des Bescherens. Meine alte Tante und mein
Schützling waren "die Kinder", die hinter der Tür harren
mussten, bis das Zeichen zum Herankommen erklang. Und dann öffnete sich
die Tür und wir sangen: "Von Himmel hoch, da komm ich her!", und
unser Junge bekam seine Geschenke, die ihn in einen Freudenrausch versetzten.
Nach dem Abendessen saßen wir im Weihnachtszimmer, es duftete nach
Tannen, nach Wachs und all den Frühlingsblumen, die das Zimmer
füllten. Da ging ihm das Herz auf, und er erzählte von "zu
Hause", ein trostloses, ödes Bild entwarf er uns. Streit zwischen den
Eltern, keine Liebe, kein Verstehen; im erbitterten Kampf ums Dasein war in
ihrem Hause alle Liebe4 erloschen und mit der Liebe die Freude. Wir hörten
still zu, als sich so Bild auf Bild vor unseren Augen entrollte von seinem
Leben, in dem die Sonne gefehlt hatte, und dessen Alltag von keinem Glanz
durchstrahlt war. Nun schwieg er. "Armes Kind!" sagte ich
unwillkürlich, das Schweigen brechend. Da bückte er sich tief und
barg sein Gesicht aufschluchzend in seine Hände. Es war ganz still im
Zimmer. Man hörte nur das Knistern eines brennenden kleinen Tannenzweiges,
der einem Lichtlein zu nahe gekommen war, und das Schluchzen, das aus seiner
jungen Seele brach. Dann ließ er die Hände herabsinken und hob sein
tränenüberströmtes Gesicht empor. "Ich habe noch nie ein
Weihnachtsfest gehabt", sagte er, "jetzt weiß ich es, dieses
war mein erstes Weihnachtsfest."
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Monika Hunnius 1858 - 1934
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