Das vertauschte Weihnachtskind ( 2 )
"Die Adresse schreibe ich dazu," sagte Fräulein, "und die
auf das Kuvert auch."
"Die Marke darf ich lecken, nicht?"
"Für den Ruprecht braucht's keine."
Aber Elsbeth wollte lieber sicher gehen und ließ nicht nach, bis eine
Marke aufgeklebt war; und nachher war sie sehr energisch dagegen, daß
Minna, das Stubenmädchen, den Brief in den Briefkasten trug, Fräulein
mußte mit ihr über die Straße gehen und sie heben, so
daß sie den Brief selber einstecken konnte.
Fräulein lachte heimlich. Der Briefkasten gehörte nämlich nicht
der Post, sondern einem großen Kohlengeschäft. Die Leute würden
sich dort schön wundern!
Darauf gingen die beiden wieder Äpfel, Nüsse und Bonbons
zusammenlesen.
Der Tag zu Heiligabend war gekommen und Klein-Elsbeth in wahrem Fieber vor
Erwartung. Das Brüderchen mußte doch sicher kommen; bis jetzt hatte
der Weihnachtsmann immer alles gebracht, was sie sich gewünscht hatte.
Wenn bloß der Brief richtig angekommen war! Papa und Mama wußten natürlich von dem bevorstehenden
Familienzuwachs. Elsbeth war anfangs dafür gewesen, sie zu
überraschen, aber sie hatte doch auf die Dauer ihr Geheimnis nicht bei
sich behalten können. Und Mama hatte gesagt: "Es ist nur gut,
daß ich es weiß, da muß ich doch Steckkissen und Windeln
instand setzen."
"Aber das sage ich dir, Mama, es ist meins!" hatte Elsbeth sehr
entschieden gesagt. "Daß du mir's nicht etwa nachher fortnimmst
und sprichst, es wäre deins!"
"Ei, wo werde ich denn," hatte Mama geantwortet.
Nun war's draußen dunkel, in der Gegend des Wohnzimmers allerlei
Getrappel und Gemunkel. Elsbeth, die atemlos mit Fräulein in ihrem
Zimmerchen wartete, hörte es und trippelte wie ein Irrlicht herum vor
Ungeduld. Draußen läuteten die Glocken. Und endlich klingelte es.
"Fräulein, schnell -!"
Da war die Weihnachtsstube, mit Papa und Mama und dem Weihnachtsbaum und lauter
Herrlichkeiten auf Tischen und Stühlen. Und die Eltern, beide lachten ganz
glücklich: "Sieh doch dort, Elsbethchen, das ist deins, was der
Weihnachtsmann dir gebracht hat."
Aber die großen Kinderaugen von Klein-Elsbeth suchten, suchten, und das
Gesichtchen wurde immer kläglicher -
"Wo ist denn das Brüderchen?"
"Ja, denke dir," sagte Mama, "das ist nicht gekommen!"
Aus Elsbeths Augen kullerten Tränen.
"Der Ruprecht!" nickte sie. "Das ist schon so einer. Jetzt freue
ich mich beinahe gar nicht."
"Ja," meinte Papa, "wir müssen ihn nächstes Jahr
einmal fragen, ob er denn deinen Brief nicht bekommen hat."
Nun half da ja nichts; Elsbeth mußte sich mit den anderen Sachen
zufrieden geben, und das ging ja auch, denn sie waren wirklich sehr schön.
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Victor Blüthgen 1844 - 1920
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