Gelobet seist du, Jesus Christ
Es war Weihnachtsabend des Jahres 1703. Der Vater Knesebeck, angesehener
Ratskämmerer der Stadt Rostock, saß am hellen Kamin in seinem roten,
plüschenen Sessel. Sein weißes Haupt ruhte an der hohen
Rückenlehne. Zu seinen Seiten saßen seine betagte Hausfrau und seine
Tochter. Auf dem Tisch vor ihnen aber standen zwei leuchtende Kerzen, und
aufgeschlagen lag die heilige Schrift. alles war still. Unser Leben währet
siebenzig Jahre, und wenn's hoch kommt, sind's achtzig Jahre - beim Vater
Knesebeck war's höher gekommen, denn 82 Jahre war die Zeit seiner
Pilgrimschaft. Und wenn jetzt draußen um die Türme der alten Stadt
Rostock der kalte Dezemberwind pfiff und die Wetterfahnen knarrten: er
hörte nichts davon. Seit zehn Jahren war er ganz taub geworden und hatte
kein Weihnachtsevangelium und kein Weihnachtslied gehört, sondern taub und
stumm wie heute dagesessen. Und seit zehn Jahren hatten die beiden zur seiner
Seite geseufzt und auch gebetet, ob's Gott gefallen möchte, dass der Vater
wieder hören möchte Freude und Wonne, dass seine Gebeine
fröhlich würden. - Jetzt ging's an die heilige Weihnachtsfeier. Mit
einem Wehmütigen blick zu dem Haupte des Vaters, der mit gefalteten
Händen dasaß, nahm die liebe Tochter die heilige Schrift, und hub an
Luk. 2: Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus
ausging, dass alle Welt geschätzt würde. - Und jedermann ging, dass
er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seiner Stadt. Da machte
sich auch Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische
Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem - und so las sie die ganze
heilige Festgeschichte. Nun fingen die beiden, Mutter und Tochter, mit leiser
Stimme an, ihr Weihnachtslied zu singen, wie es im Hause herkömmlich:
Gelobet seist du, Jesus Christ . . . Im hohen Zimmer hallte es seltsam wider,
wie die zwei anhuben. Aber sieh, es waren nicht mehr zwei, es waren drei, die
die zweite Strophe sangen - und der Dritte war der alte Vater selbst, der mit
zitternder Stimme einfiel: "Dass du Mensch geboren bist!" Denn
während der Vorlesung hatte des Herren Engel, der in der heiligen Nacht zu
den Hirten getreten und gerufen: Fürchtet euch nicht, siehe, ich
verkünde euch große Freude - es hatte der Engel des Herrn ihn
berührt, Jesus, der neugeborne König, hatte das Hephata über
seinen betagten Knecht gerufen. Er hörte und sang, und singend betete er
an und lobte. Da feierten die drei den heiligen Abend so froh, dass ihnen auch
die hellen Freudentränen über die Wangen rannen: und wohl mocht's
schön ertönen, als sie sangen: "Das hat er alles uns getan,
sein' großes Lieb' zu zeigen an. Des freu' sich alle Christenheit und
dank ihm des in Ewigkeit!"
Wie mancher Weihnachtsabend seit diesem über Vater Knesebecks Haupt in
dieser Zeitlichkeit noch dahingegangen, weiß ich nicht. Doch aber
weiß ich, dass solcher Christgesang bei ihm geblieben ist die übrige
Zeit seiner Wallfahrt, und das glaube ich, dass, als er nun seinen Herrn mit
der Engel Schar in seinem himmlischen Thron selbst hat begrüßen
dürfen, er's auch noch gekonnt hat:
Gelobt seist du, Jesus Christ,
Das du Mensch geworden bist,
Von einer Jungfrau, das ist wahr;
Des freuet sich der Engel Schar: Halleluja!
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Dora Schlatter 1855 - 1915
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